Iran: Geschlossen gegen das
soziale Erdbeben
Die Abwahl von Rafsandjani und der Wahlsieg von
Ahmadinedschad mag für den außenstehenden Beobachter überraschend sein, weil er
die wachsende wirtschaftliche und soziale Misere im Land nicht wahrgenommen
oder diese nur als Folge der Politik der »Mullahs« und deren ökonomischer
Abschottung gegenüber dem Westen betrachtet hatte. Im Iran selber wird die
soziale Lage wesentlich explosiver eingeschätzt, sogar von konservativen
Intellektuellen. Im Wahlkampf gegen den Milliardär Rafsandjani versprach
Ahmadinedschad, die Armen am Ölreichtum teilhaben zu lassen. Will er
tatsächlich die Ölrente umverteilen, ein »sozialer Aktionismus wie unter Chavez
in Venezuela«? Die höchste Autorität im Iran bleibt allerdings der oberste
Führer Ajatollah Ali Chamenei. Rafsandjani, der Favorit des Westens, behält als
Vorsitzender des mächtigen »Rates zur Feststellung der Staatsräson« weiterhin
großen politischen Einfluss. Aber mit Ahmadinedschad haben die Machthaber im
Iran jetzt einen ergebenen Angestellten als Präsidenten. So wird das Regieren
effektiver funktionieren und »auch für den Westen wohl eher berechenbar sein
als die ewig blockierte Republik der letzten Jahre«, wie ein ARD-Korrespondent
nach der Wahl zu berichten wusste.
Great Game
Die US-Strategie im Nahen und Mittleren Osten zielt auf einen Regimewechsel im
Iran, ob mit einem Krieg oder irgendeiner farbigen Revolution. Le Monde
diplomatique (vom 14.1.2005) hat das treffend mit »Umwerben, Einkreisen,
Isolieren« beschrieben. Für die Herrschenden im Iran gibt es keinen Zweifel
daran, dass der Iran ohne Atomwaffen keine regionale Hegemonialmacht ist und
der Bedrohung durch die USA und Israel nichts entgegenzusetzen hat. Die Frage
ist nur, welcher Preis dafür gezahlt werden muss (US-Embargo, Krieg). Aber auch
wirtschaftliche und geostrategische Zwänge (die USA haben in fast allen
Nachbarstaaten Truppen stationiert) zeigen, dass die Islamische Republik auf
Dauer ohne die politische Anerkennung der USA nicht als regionaler Hegemon
fungieren kann. Sowohl im Afghanistan- wie im Irak-Krieg vermied der Iran eine
Konfrontation mit den Vereinigten Staaten; in der Atompolitik setzt er auf
Kooperation mit Europa.
Die EU, Russland, China und Indien sind wichtige Akteure in diesem Spiel. Die
EU ist der größte Handelspartner Irans. 40 Prozent der iranischen Importe
kommen aus EU-Ländern (allein die Importe aus der BRD sollen in diesem
Jahr ein Volumen von vier Milliarden US-Dollar überschreiten) und 35 Prozent der Exporte (davon 80 Prozent Öl) gehen in
die EU.
Nach Verhandlungen mit Deutschland, Frankreich und England unterzeichnete die
iranische Regierung am 21. Oktober 2003 das Zusatzprotokoll zum
Atomwaffensperrvertrag. Eine Woche danach beschloss der französische
Renault-Konzern, 700 Millionen Euro in eine Autofabrik zu investieren – das
erste große Engagement eines ausländischen Konzerns seit 1979. Auch VW stieg im
Juli 2004 in den stark wachsenden iranischen Markt ein. In der
Sonderwirtschaftszone Arg-e-Jadid nahe der (immer noch in Ruinen liegenden)
Stadt Bam im Südosten Irans sollen zunächst 20.000 Fahrzeuge im Jahr montiert
werden.
In der Frage der Atomenergie positioniert sich das Dreieck China, Russland und
Iran gegen die USA. China und Russland liefern Anlagen und know how, und
China bezieht bereits heute 13,6 Prozent seiner Ölimporte aus dem Iran. Eine
chinesische Ölgesellschaft hat im März 2004 einen Vertrag über die Einfuhr von
110 Millionen Tonnen iranischem Erdgas abgeschlossen. Auch Indien hat Gespräche
über langfristige Erdgaslieferungen mit dem Iran geführt. Beide Länder wollen
in die Erschließung iranischer Ölfelder investieren – trotz Sanktionsdrohungen
der USA, die auch den Bau einer 2600 Kilometer langen Erdgasleitung von Iran
über Pakistan nach Indien verhindern wollen.
Der Boom
und seine sozialen Schattenseiten
Im Ergebnis des Irak-Kriegs hat der Iran nicht nur
einen sehr großen Einfluß im Irak gewonnen. Der Krieg bescherte der Regierung
mit der Ölpreisentwicklung auch höhere staatliche Einnahmen. 2004 lag das
Wirtschaftswachstum bei über sieben Prozent; davon sind aber 90 Prozent den
gestiegenen Ölpreisen geschuldet. Die Petrodollars geben dem Regime wie gehabt
die Möglichkeit, die Mittelschicht zu beruhigen. »Arbeitslosigkeit,
Straßenkinder, Drogenmissbrauch« beschrieb Die Zeit vom 1.6. 2005 als
die »sozialen Schattenseiten« dieses Booms. Die Reallöhne sinken seit 1988 (auf
zur Zeit etwa 110 Euro im Monat). Das 5. Parlament schaffte die Arbeitsgesetze
für Betriebe mit weniger als fünf Beschäftigten ab. Das 6. Parlament beschloss
2002 das Gleiche für die 300 000 TeppichknüpferInnen. Mit dem Gesetz zur
»Anpassung der Arbeitskraft« konnten die Textilbetriebe etwa 100 000
ArbeiterInnen einfach entlassen. Jetzt will das 7. Parlament alle ArbeiterInnen
mit befristeten Verträgen – die Hälfte aller ArbeiterInnen! – aus dem
Geltungsbereich der Arbeitsgesetze streichen.
1996 waren nach amtlichen Statistiken 1,4 Millionen arbeitslos, heute 3,2
Millionen (unabhängige Stellen rechnen mit 4,3 Millionen Arbeitslosen); d.h
einem Bevölkerungswachstum von 18 Prozent steht ein Anstieg der
Arbeitslosigkeit von 130 Prozent gegenüber.
Pragmatismus
statt Reformen
Sowohl außenpolitische Konflikte wie Spannungen im
Land werden oft als Kampf zwischen Konservativen und Reformern, »Tradition
gegen Moderne« dargestellt. Dahinter steckt die unterschiedliche
Herangehensweise der herrschenden Klasse an die Frage der Sicherung der
Ausbeutungsverhältnisse. Die Losung von Chatamie: »politische
Entwicklung vor wirtschaftlicher« war der Versuch, mit der Beteiligung weiterer
Schichten der Bourgeoisie die Intensität der Ausbeutung zu verschärfen und zu
regeln. Im Iran werden alle möglichen NGOs geduldet und unterstützt.
15 000 Gruppen soll es inzwischen geben. Sie werden dringend gebraucht
(etwa im Drogenmilieu).
Die Reformbewegung wurde sozusagen teilweise verstaatlicht, die radikalen
Bewegungen wurden isoliert und niedergeschlagen. Während des »Machtkampfs
zwischen Konservativen und Reformern« entstand eine Agenda der pragmatischen
Zusammenarbeit der Herrschenden miteinander, mit den Bürgern und mit dem
Ausland. Frauen- und Studentenbewegung sind in die Sackgasse der
Reformbewegung geraten. Ihre Hoffnungen auf staatliche Zugeständnisse sind enttäuscht
und ihre Wortführerinnen desillusioniert.
Die Herrschenden können und wollen gar nicht die vielen kleinen Freiheiten
verbieten. Heute kann im Iran »frei geredet« werden. Allerdings schlägt der
Staat unbarmherzig zu, wenn sich Leute aktiv gegen das System betätigen. Erst
neulich wurden Aufstände der in tiefer Armut lebenden und diskriminierten
arabischen Bevölkerung brutal niedergeschlagen, es gab über 50 Tote – unter den
Augen und dem Schweigen der staatstragenden überwiegend persischen MenschenrechtlerInnen.
Seit Reza Shah und dem Beginn der Ölförderung in dieser Region besteht
die Politik der Herrschenden in Umsiedlung, Rückständighaltung und Ausrottung
der arabischen Bevölkerung. Die Araber blieben meist arme Bauern und ungelernte
Saisonarbeiter und leben hauptsächlich in Dörfern und Slums.
Gewerkschaftsbewegung
Seit Jahren bemüht sich der Iran um eine gute
Zusammenarbeit mit der Internationalen Arbeits-Organisation (ILO). Die
ILO bietet technische und beratende Hilfe besonders zur Überwindung der
Arbeitslosigkeit und versucht, das iranische Arbeitsrecht dem internationalen
Standard anzupassen. Im Juni 2002 hat der iranische Arbeitsminister in der 90.
Sitzung der ILO gefordert, dass mit Hilfe dieser Organisation die Hindernisse
bei der Aufnahme in die WTO beseitigt werden. Am 26 Mai 2005, einen Tag nach
den neuen Verhandlungen über das Atomwaffenprogramm zwischen dem Iran und drei
europäischen Ländern, akzeptierten die USA dann, nach jahrelangem Veto, den
WTO-Beitritt Irans. Im Gespräch sind unter anderem auch die Lieferung von
Ersatzteilen für iranische Flugzeuge.
Die ILO fordert u.a. die freie Wahl der Arbeitervertreter, erkennt aber nach
wie vor die Islamischen Arbeiterräte und das »Haus der Arbeit« (so etwas wie
eine islamische Arbeiterpartei) als legitime Vertreter der iranischen Arbeiter
an. Im Juli 2003 erklärten die ILO und das iranische Arbeitsministerium, dass
die Unabhängigkeit und freie Aktivität von Gewerkschaften garantiert werden
soll – was bei den Islamischen Räten und dem »Haus der Arbeit« heftige Proteste
auslöste. Die ILO will demnächst ihre seit 24 Jahren geschlossene Zweigstelle
in Teheran wieder eröffnen.
Seit der Zerschlagung der Arbeiterräte, die 1978 aus den Streikkomitees der
Revolutionszeit entstanden waren, hatten die Arbeiteraktivisten und Linken über
die »richtige« Arbeiterorganisation gestritten. Da die Gewerkschaften unter dem
Schah-Regime Handlanger des Staats waren und von den ArbeiterInnen der
Großbetriebe auch so wahrgenommen wurden, sprach man nicht über die Gründung
von Gewerkschaften, sondern über unabhängige Arbeiterorganisationen. Aber
praktisch war jegliche Organisierung der Arbeiter ohnehin verboten.
Die Gewerkschaftsbewegung appelliert an die »freien Arbeiter« der Welt bzw. den
Internationalen Bund freier Gewerkschaften (ICFTU), um die fehlende
Solidarität im Innern mit der Hilfe von Außen wett zu machen. Aber auch
diejenigen, die gegen Gewerkschaften und für Räte (faktisch Betriebsräte) sind,
setzen auf den politischen Einfluss des ICFTU und den Schutz durch die ILO.
Viele Parteilinke und Arbeiteraktivisten sehen aktuell eine historische Chance,
freie Arbeiterorganisationen zu gründen – nicht nur wegen des Drucks von außen
und die Akzeptanz der Gewerkschaften durch den Staat und Teile der Bourgeoisie,
sondern auch aufgrund des Machtverfalls der Islamischen Arbeitsräte und des
»Haus der Arbeit«, der am diesjährigen 1. Mai deutlich wurde. Die mit viel
Propaganda organisierte Mai-Kundgebung mit 12.000 Arbeitern in Teheran wurde zu
einer Blamage. Als die Veranstalter Wahlwerbung für Rafsandjani machten,
protestierten die ArbeiterInnen laut, riefen Parolen gegen Rafsandjani und die
Wahlen, und verließen die Kundgebung. Rafsandjani konnte nicht als Redner
auftreten und sagte später, er würde auf einer Veranstaltung, bei der Parolen
gegen den Staat gerufen werden, nicht reden. Er gilt unter den ArbeiterInnen
als der Gottvater der »Liberalisierung« und der Entlassungswelle in seiner
Präsidentschaftszeit.
Komitees
Im Februar 2005 entstand das Komitee für die
Gründung freier Arbeiterorganisationen. In einem von mehr als 2371
ArbeiterInnen unterzeichneten Brief an das Arbeits- und Sozialministerium,
»Arbeiterorganisationen der Welt« und die ILO forderten sie die Anerkennung des
Rechts auf Bildung unabhängiger Arbeiterorganisationen und die Beseitigung der
bestehenden Hindernisse bei ihrer Gründung. Ein zweites Komitee mit dem Namen Koordinierungskomitee
zum Aufbau einer Arbeiterorganisation rief Ende April 2005 die
ArbeiterInnen auf, eine Arbeiterorganisation aus eigener Kraft zu bilden. Die
ILO habe »die Verpflichtung, den Vollzug dieser Übereinkommen zu überwachen und
durchzusetzen«, und die Islamische Republik Iran müsse die Sicherheit der
Arbeiteraktivisten garantieren. Kopien der 3029 Unterschriften gingen auch an den
ICFTU und an die ILO.
Viele alte Gewerkschaftler und ein politisches
Spektrum von der Tudehpartei bis zur AKPI (Arbeiterkommunistische Partei)
unterstützten das erste Komitee, das letztlich eine Einheitsgewerkschaft à la
BRD gründen will. Andere sehen dagegen im zweiten Komitee eine Kraft, die
weiter links steht und gegen Lohnarbeit ist, mit dem Ziel, eine linke
Richtungsgewerkschaft oder sogar Arbeiterräte zu gründen.
In der Theorie mögen sich beide Komitees, besonders ihre politischen Wortführer
und Unterstützer, stark voneinander unterscheiden. Aber in der Praxis sieht man
bisher wenig Unterschiede. Beide betreiben die Organisierung von oben, machen
Unterschriftensammlungen, hoffen auf die Hilfe von Gewerkschaften im Ausland,
usw. Beide haben recht bescheidene Forderungen und greifen zu symbolischen
Aktionen wie 1.Mai-Veranstaltungen, deren Ablauf bezeichnend ist. Im Vorfeld
des 1. Mai 2005 hatte sich der Vertreter des Koordinierungskomitees, Mohmood
Salehi, an den ICFTU-Präsidenten gewandt. Dann ließ der ICFTU verlauten,
dass er die Ereignisse im Iran bzw. das Handeln der Regierung bei den
Mai-Demonstrationen beobachten werde. Im Gegensatz zum Vorjahr verliefen dieses
Jahr alle Veranstaltungen und Demos in Teheran und anderen Städten ohne
Zwischenfälle – trotz roter Fahnen und Absingen der Internationale. Aber nicht
nur der Staat handelte vorsichtig, auch die Arbeitervertreter machten mit. Die
Gewerkschaft der Bäcker in Sagges mit Salehi als Wortführer nahm an einer
Veranstaltung mit dem »Haus der Arbeit« von Sagges teil, bei der erst der
Gouverneur der Stadt, dann der Chef des Arbeitsamts und danach Salehi zu den
1500 Arbeiterinnen und ihren Familie sprachen. Je öffentlicher diese Aktivisten
mit der Regierung verhandeln, desto mehr wird von selbständigen Aktionen und
radikalen Auseinandersetzungen abgesehen.
Die erste
legale Gewerkschaft
Die Busfahrer haben schlechte Löhne und schwere
Arbeitsbedingungen. Neben dem Fahren müssen sie die Fahrscheine kontrollieren
und für die die Einhaltung der gesetzlich vorgeschriebenen Geschlechtertrennung
in den Sitzreihen sorgen. 1970 gab es schon einmal eine Gewerkschaft der
Fahrer, sie wurde aber fünf Jahre nach der Islamischen Revolution aufgelöst.
Seit langem versuchen die Gewerkschaftler, diese Gewerkschaft neu zu gründen.
Als sie sich zu diesem Zweck am 9. Mai 2005 versammelten, wurden sie vom
islamischen Rat, der Geschäftsleitung und Sicherheitskräften angegriffen,
einige Gewerkschaftler wurden verletzt. Auch der zweite Versuch einer
Betriebsversammlung scheiterte am 13. Mai durch den Eingriff von Geheimpolizei,
Sicherheitskräften und eines Teils des »Haus des Arbeit«. Noch am selben Tag
versammelten sich 3000 ArbeiterInnen und forderten die Auflösung der
Islamischen Räte. Am 3. Juni gab es wieder einen Aufruf zur Abhaltung einer
Betriebsversammlung. Diesmal hinderten die Sicherheitskräfte die ArbeiterInnen,
den Versammlungsort zu erreichen. Gegen Mittag versammelten sich ca. 500
ArbeiterInnen mit Transparenten.Daraufhin erhielt die Polizei den Befehl, sich
zurückzuziehen. Dann wurde in einer Betriebsversammlung die Gewerkschaft der
ArbeiterInnen des Öffentlichen Nahverkehrs Teheran gegründet; es sollen
5000 (von insgesamt 14000) ArbeiterInnen an der Gründung dieser ersten legalen
Gewerkschaft beteiligt gewesen sein..
Die
ArbeiterInnen bewegen sich
1997 hatten 2000 Ölarbeiter in Teheran vor dem
Ölministerium demonstriert. Die Bewegung war vom Regime niedergeschlagen
worden, mehr als 100 Arbeiter waren verhaftet und viele Arbeiteraktivisten entlassen
worden. Aber seitdem reißen die Streiks und spontanen Demos nicht mehr ab.
Besonders die TextilarbeiterInnen kämpfen für Arbeitsplätze und die Auszahlung
ausstehender Löhne. Mehr als 80.000 ArbeiterInnen in etwa 1400 Fabriken
beteiligten sich an Streiks, Hungerstreiks in der Fabrik, Straßenblockaden,
spontanen Demos vor den Verwaltungen und dem Parlament, bis zu Revolten in den
Städten, die meist durch den Einsatz der Staatsgewalt beendet und
niedergeschlagen werden.
Ein Beispiel: Shahr Babak
Im Januar 2004 hatten die Arbeiter der
Kupferminen und -Verarbeitung von Khatoon-abad in der Provinz Kerman
gegen ihre Entlassung protestiert und tagelang mit ihren Familien vor den Minen
Sitzstreiks organisiert. Die Spezialkräfte greifen an und schießen. Einige
Arbeiter und Familienangehörige werden verwundet und festgenommen. Gegen diesen
Angriff entsteht in der Stadt Shahr Babak, wo viele Arbeiter aus den
Kupferminen wohnen, eine große Protest- und Soldarisierungswelle. Die Einwohner
demonstrieren auf den Straßen und werfen Steine auf Banken und Verwaltungen.
Auch aus Hubschraubern wird das Feuer auf sie eröffnet. Mindestens vier
Arbeiter werden getötet, und viele verwundet und verhaftet.
Es gibt auch neue Formen Arbeiterwiderstand: einzelne Arbeiter töten ihre
Betriebschefs mit der Waffe, Sabotage in der Fabrik usw..
Das Detroit
des Mittleren Ostens
Seit Mitte der neunziger Jahre wächst der iranische
Automarkt um rund 30 Prozent jährlich und damit schneller als der chinesische.
Der Ausstoß von PKWs wird in diesem Jahr auf etwa 1 Mio gesteigert. Die
Produktion des ersten nationalen PKWs - des berüchtigten Peykan - wurde jetzt
nach 38 Jahren eingestellt. Nach dem Joint-Venture mit Renault sollen ab 2006
in den Fabriken von Iran Khodro und Saipa insgesamt 300.000 Logan
vom Band rollen. Der Vizechef von Iran Khodro, der größten Autofabrik des
Landes, sagt, Iran werde »das Detroit des Mittleren Ostens«. Aber die
Produktionsprozesse gelten im internationalen Vergleich noch als veraltet und
unproduktiv. Der Boom wird aus den Knochen der Arbeiter herausgeholt. Sie
bezeichnen Iran Khodro in Teheran als Schlachthof. Im letzten Jahr sind
dort mindestens acht Arbeiter durch Arbeitshetze und Arbeitsunfälle ums Leben
gekommen. Die Firma ist der größte Fahrzeughersteller im Mittleren Osten und
mit mehr als 30.000 Beschäftigten der größte Betrieb im Iran. Seit 1997 wurden
keine Arbeiter mehr fest eingestellt, es werden nur befristete Arbeitsverträge
geschlossen. Die Subunternehmen und Dienstleistungsbetriebe, die für die Firma
arbeiten, zahlen sehr niedrige Löhne. Die Firma nötigt die Arbeiter zu
Arbeitstagen von mehr als zehn Stunden und streicht die Feiertage. Immer mehr
Arbeiter werden durch Unfälle, die schwere Arbeit und Überstunden getötet.
Daraufhin gab es Arbeiterproteste und begrenzte Arbeitsniederlegungen, obwohl
Versammlungen und Streiks verboten sind.
Zu Neujahr (21. März 2005) hat die Firmenleitung alle ArbeiterInnen
aufgefordert, während der Ferien und am Wochenende am Arbeitsplatz zu
erscheinen, um ihre Kündigung zu verhindern. Die Jahresprämie wurde gestrichen.
Die Beschäftigten der Montagelinie 1 wurden wegen der Stilllegung der
Produktion des Peykan gekündigt.
Die ArbeiterInnen griffen zu Protesten und Streiks. Am 12. April wurde der
Strom in den Montage- Abteilungen 1 und 3 abgeschaltet und die Produktion für
einige Stunden unterbrochen. Ein Montagearbeiter (Parviz Salarwand, der an den
Protesten beteiligt war) wurde entführt und im Keller der Fabrik durch den Harasat
(Werkschutz) verhört, später an einen unbekannten Ort verschleppt. Er wird
beschuldigt, gegen die niedrigen Löhne der Zeitarbeiter protestiert zu haben.
Nach drei Wochen wurde bekannt, dass gegen den geständigen Parviz Salarvand
wegen »vorsätzlicher Abschaltung der Elektrizität und Sabotage« Haftbefehl
erlassen wurde. Das Koordinierungskomitee unterstützte ihn in einer
Mitteilung vom 18. Mai 2005, lehnte aber Sabotageaktionen ab als
»abenteuerliche Methoden gegen die Interessen der ArbeiterInnen«.
Laut Mitteilung einer Gruppe ArbeiterInnen von Iran Khodro wurde er nach
40 Tagen in Folge der Proteste seiner KollegInnen und der Bemühungen
ausländischer Institutionen frei gelassen. Aufgrund der Arbeiterproteste musste
die Firmenleitung dieses Jahr den 1. Mai zum arbeitsfreien Tag erklären.
aus Wildcat Nr. 74, Sommer 2005