Neue Westfälische vom 8. Juni 2005

Titel:
"Die Amerikaner teilen den Irak"
Untertitel:
INTERVIEW: Sabah Alnasseri, Politologe


•Paderborn. Etwa 12.000 Iraker sind in den vergangenen anderthalb Jahren nach Regierungsangaben durch die Gewalt Aufständischer ums Leben gekommen. Seit Beginn der US-Invasion im März 2003 wurden mehr als 1.600 US-Soldaten getötet. Hubertus Gärtner sprach mit dem Exil-Iraker Sabah Alnasseri (44) über die Gründe hierfür. Alnasseri ist Politikwissenschaftler und lebt seit 1988 in Deutschland. Er lehrt an den Universitäten in Frankfurt und Kassel.

Der Krieg im Irak ist zu Ende, aber es kehrt kein Frieden ein. Warum?

SABAH ALNASSERI: Die Geschichte lehrt uns, dass jede Besatzung zwangsläufig zur Radikalisierung führt. Auch die seit zwei Jahren im Irak zu beobachtende Zunahme der Gewalt hängt ursächlich mit der Besatzung zusammen. Meine These ist: Je eher die Besatzung im Irak zu Ende ist, desto eher wird es zu einer Befriedung dieser Region kommen.

Im Irak wurde jüngst eine neue Regierung gewählt. Ist sie auf dem richtigen Weg?

ALNASSERI: Die Mehrheit der Bevölkerung sieht diese Regierung immer noch als Anhängsel der Besatzer im Irak. Wenn es ihr nicht gelingen sollte, zu vermitteln, dass sie unabhängig ist, dann hat sie ein Legitimationsproblem. Schon die provisorische Verfassung und der von den Amerikanern erzwungene Wahlmodus haben das Land anhand ethnischer und religiöser Kriterien geteilt. Dadurch konnte von vornherein keine starke und zentrale Regierung gebildet werden.

Hier zu Lande herrscht der Eindruck vor, die Konflikte im Irak seien sehr stark religiös geprägt. Ist dieser Eindruck richtig?

ALNASSERI: Aus meiner Sicht ist er falsch. Der Eindruck entsteht, weil hier in den Medien bestimmte Konfliktfelder verdrängt werden oder der Vereinfachung wegen gar nicht zur Sprache kommen. So ist beispielsweise im Irak ein theokratischer Staat iranischer Prägung ausgeschlossen. Nicht nur deshalb, weil die Schiiten im Irak nicht die große Mehrheit darstellen, sondern weil sie auch nicht per se für konservative Parteien sind. Die Allianz der Schiiten im Irak ist völlig inhomogen. Sie besteht aus etwa 30 verschiedenen Parteien, Gruppierungen und Persönlichkeiten. Das Gleiche gilt übrigens für die sunnitische Minderheit.

Sehen Sie einen tieferen Grund dafür, warum die religiösen Differenzen in der Debatte eine so große Rolle spielen?

ALNASSERI: Indem man über Konflikte wie im Irak oder auch in Afghanistan in ethnisch-religiösen Kategorien redet, suggeriert man, dass diese Gesellschaften traditionell seien. Man tut so, als hätten sie noch keinen Staat, keine politische Kultur und keine Geschichte. Letztendlich rechtfertigt man damit militärische Intervention und legitimiert die Besatzung. Es heißt dann, man müsse diesen Ländern Politik und Demokratie beibringen und sie zivilisieren.

War der Irak früher denn ein demokratisches Land?

ALNASSERI: Natürlich nicht. Ich selbst habe viele Jahre lang gegen das Regime Saddam Husseins gekämpft. Aber das, was jetzt im Irak durch die Besatzungsmächte passiert, ist ein zivilisatorisch-missionarisches Projekt im negativen Sinne.

Sehen Sie eine Chance, dass in absehbarer Zeit Frieden im Irak einkehren wird?

ALNASSERI: Die Realität ist schlimm, aber ich bin dennoch optimistisch. Ich glaube an den Willen der Menschen, die etwas im positiven Sinne verändern wollen.

Täglich sterben im Irak Menschen. So richtig wahrgenommen wird das im Westen kaum noch. Trotz der düsteren Lage geben Experten die Hoffnung für das Land nicht auf.