Rede von
Dr. Ibrahim Lada’a, IPPNW - Internationale Ärzte für die Verhütung des
Atomkrieges/Ärzte in sozialer Verantwortung auf der Kundgebung
Hinter Mauern wächst kein
Frieden am 28. Oktober 2006 in Paderborn
Der soziale Aspekt der israelischen MAUER
Palästinenser aller politischen Schattierungen nennen die zur Zeit im Bau
befindliche, 750 km lange und 8 m hohe Betonmauer von 1,5 m Dicke, rassistische
Trennungsmauer. Manche vergleichen sie mit der Berliner Mauer, andere sagen, es
ist eine Gefängnismauer, die Israel auf palästinensischem Boden trotz der
Feststellung der Völkerrechtswidrigkeit durch den internationalen Gerichtshof
unbekümmert weiter baut.
Viele Palästinenser sprechen über Frieden und meinen damit Kapitulation .Sie
sprechen im Fernsehen und im Internet über die Revolution mit all ihren
Strukturen, über die gefallenen und verletzten Palästinenser, die sie in ihren
Seminaren und Presseinterviews stolz in Zahlen angeben, haben aber nie einen
Cent für die Kinder und Frauen der Gefallenen und Verletzten gespendet. Sie
sprechen über die Liberalisierung der Frau und meinen nur Sexismus. Sie sprechen
über die soziale Gesellschaftsstruktur im starken Widerspruch zur revolutionären
Kultur des Widerstandes. Es liegen sehr viele Probleme vor, die uns noch
jahrelang beschäftigen werden.
Eines dieser Problem, das so gut wie nie angesprochen wird und als Ergebnis des
Mauerbaus anzusehen ist, ist das Problem der Arbeiter der besetzten Gebiete von
1967. Für diese Arbeiter hat durch den Mauerbau ein neuer Überlebenskampf
begonnen. Die Statistik zeigt, dass die Zahl der illegalen Arbeiter aus dem
besetzten Gebiet, die in Israel arbeiten, fast die Hälfte der Arbeiter ausmacht,
die von der israelischen Militärverwaltung und der palästinensischen Verwaltung
genehmigt werden. Diese illegalen Arbeiter sind Tagelöhner, billige
Arbeitskräfte ohne jegliche soziale Absicherung. Sie leben tagtäglich unter der
drohenden Gefahr von der israelischen Ordnungsmacht entdeckt und verhaftet zu
werden.
Während der Saisonarbeit beläuft sich ihre Zahl auf ca. 50.000. Trotz alledem
und trotz der rassistischen Diskriminierung und nationalen Demütigung und der
unvorstellbaren Schikanen und Schwierigkeiten, die tagtäglich überwunden werden
müssen, reißt der Strom der Arbeiter aus den besetzen Gebieten nicht ab. Sie
haben hart gearbeitet, haben all diese Schwierigkeiten auf sich genommen, nur um
ihre Familien zu unterstützen, ihre Kinder zu ernähren - in der Hoffnung, dass
sie es einmal besser haben würden. Sie haben nie daran denken wollen, dass
Israel eines Tages die sogenannte grüne Linie dicht machen würde. Diesen
Gedanken wagte keiner von ihnen zu denken. Sie hörten auch nicht die vielen
kritischen Stimmen arabischer Intellektueller, die seit Jahren vor der
wirtschaftlichen Abhängigkeit von Israel gewarnt haben.
Israel hat mehrmals in diesen 38 Jahren Besatzung diesen Faktor ausgenützt, um
politischen Druck auf die palästinensische Führung auszuüben. Die verschiedenen
israelischen Regierungen haben des öfteren die Grenzen abgeriegelt und es den
Arbeitern tagelang, manchmal monatelang nicht erlaubt, über die Grenze an ihren
Arbeitsplatz zu gelangen.
Aber jetzt kommt der Tag vor dem wir lange gewarnt haben, der Tag nach der
Mauer. Es ist nicht mehr möglich die grüne Grenze zu überschreiten, nur
diejenigen Arbeiter, die eine Genehmigung von der israelischen Besatzung und der
palästinensischen Verwaltung erhalten haben, dürfen die Mauer passieren, um zu
ihrem Arbeitsplatz zu gelangen. Und somit bekommen diese Arbeitserlaubnis nur
diejenigen, die Israel lieb hat. Die anderen müssen arbeitslos bleiben und
verhungern. Im Osloer Abkommen hat sich Israel verpflichtet hunderttausend
palästinensische Arbeiter aus den besetzten Gebieten in Israel arbeiten zu
lassen. Diesen Punkt, wie im übrigen viele andere, hat Israel nicht erfüllt.
Folgendes hat sich tatsächlich zugetragen: Bei einem Treffen von ca. acht
Arbeitern, in einem kleinem Dorf, an der Mauer gelegen, verlief folgende
Unterhaltung.
„Bist du heute Richtung Westen gegangen?"
„Nein, es gibt keine einzige Öffnung in dem Zaun." (Gemeint ist der israelische
Zaun, vor Errichtung der Betonmauer.)
„Es gibt seit 10 Tagen eine kleine Öffnung in dem Zaun.“
“Aber heute steht dort der israelische Soldat von Sonnenaufgang bis
Sonnenuntergang. Wir waren über 30 Leute, die darauf warteten, dass er weggeht,
aber er ging nicht weg."
„Was meinst du, was passieren wird?"
„Es ist klar, die Arbeitsmöglichkeit drüben (Israel) ist in ihrer letzten Phase.
Du siehst den Hummer, wie er kommt und geht.“ (Der Hummer ist der
israelische Militärwagen für die Grenzüberwachung, mit demselben Typ Wagen hat
die USA den Irak erobert.)
Die palästinensischen Arbeiter haben sich so organisiert, dass nach jedem
Kilometer ein Beobachter steht, um den Militärwagen, der den ganzen Tag bis spät
in die Nacht, die Grenze rauf und runter fährt, zu beobachten. Sie verständigen
sich dabei mit Handys und wenn der Hammer weg ist rennen sie, so schnell sie
können, durch die Zaunöffnung ins Landesinnere, wo sie sich in Orangenhainen
verstecken können. Dasselbe Spiel wiederholt sich am Abend, wenn sie zurück nach
Hause wollen.
„Was meinst du, was mit den Autobesitzern , die die Arbeiter an den Zaun
fahren, passieren wird?"
„Sie haben schon angefangen ihre Autos billig zu verkaufen."
„Abu Al Abed schläft seit einer Woche drüben (d.h. er arbeitet schwarz in Israel
und setzt sich so der Gefahr aus im Gefängnis zu landen, wenn er erwischt
wird). Freitags blieb er gharban (im Westen, d.h. in Israel) bis Mitternacht.
Erst als der Hummer weg war, konnte er durch den Zaun schlüpfen und nach
Hause gelangen."
Ein anderer, nicht von der Arbeitergruppe, meldete sich zu Wort. Er erzählte:
„Als ich gegen Abend auf dem Weg zur Stadt war, sah ich zwei junge Männer am
Straßenrand stehen. Der eine machte mir ein Zeichen zu halten. Ich stoppte und
er sagte er wäre aus Jenin und der andere aus einem Dorf bei Ramallah. `Hör zu
mein Bruder, ich habe kein Geld dich zu bezahlen´, sagte er. Ich antwortete:
`Dies ist kein Taxi, sondern mein Privatauto, steigt ein!´ Während der Fahrt
erzählte er: `Wir arbeiten bei einem Israeli auf dem Bau. Am Ende der Woche
sagte er, ich muss nach Hause euer Geld zu holen, um euch zu bezahlen. Während
wir auf ihn warteten, kam die Polizei und hielt uns bis vor kurzem fest. Danach
entließen sie uns, jedoch unser Arbeitgeber kam nicht zurück. Meinst du, unser
Arbeitgeber, holte die Polizei, um uns nicht zu bezahlen?´ Gott weiß, aber ich
glaube schon, dass er die Polizei benachrichtigt hat."
Kurz und gut, das ist die soziale Lage von Zehntausenden von Arbeitern, die seit
mehreren Jahrzehnten jenseits der Grünen Linie arbeiten. Wie sollen sie weiter
leben können, wenn jeder von ihnen eine große Familie zu ernähren hat und wenn
der Zaun durch eine Betonmauer von 8 Metern Höhe ersetzt wird. Die
wirtschaftliche Lage im besetzten Gebiet ist hoffnungslos. Die Arbeitslosigkeit
beträgt über 40 %, Korruption und Vetternwirtschaft gedeihen und die NROs und
die EU, sowie die Unterstützerstaaten setzen auf den Kauf und die Bestechung der
Intellektuellen und der politischen Kader aller Schattierungen. Sie werden sich
nicht auf das Niveau des einfachen Arbeiters und Analphabeten begeben, weil
diese keinen Einfluss auf die öffentliche Meinung haben. Diese große
Arbeiterschicht ist eines der Opfer dieser imperialistischen Mauer, aber im
Grunde genommen auch ein Opfer der palästinensischen Wirtschaftspolitik und
ihrer Unterstützerstaaten, weil diese keine wirtschaftliche Entwicklung plant,
um Arbeitsstellen zu schaffen um dadurch unabhängig von der israelischen
Wirtschaft zu werden.
Es muss auch gesagt werden, dass die Mauer von den Israelis in Klassen
diskriminierender Weise benützt wird. Palästinensische VIPs und reiche
Geschäftsleute dürfen die Mauer ohne Schwierigkeiten passieren. Letzten Endes
ist diese Mauer mehr ein Zeichen der Klassentrennung zwischen den Arbeitern und
Armen beider Seiten denn eine nationale Sicherheitsmauer für Israel. Das Kapital
vertritt beidseitig dieselben Interessen und wird durch die Trennungsmauer nicht
tangiert.